Wien Modern Eröffnungswoche
Wien Modern – Woche 1 im Detail
Bereits seit dem 15. Oktober gibt es die Gelegenheit, sich musikalisch, künstlerisch und inhaltlich schon einmal ‹warmzulaufen›: Auf den Spuren der Wiener Architekturpionierin Margarete Schütte-Lihotzky (1897–2000) laden die beiden Künstlerinnen Julia Mihály und Maria Huber vom Musiktheater-Kollektiv «Untere Reklamationsbehörde» dazu ein, individuelle Streifzüge durch die Stadt Wien zu unternehmen. Stadtplan und Hörstücke sind online unter wienmodern.at/hoerstuecke.
Gleich drei ihrer eigenwilligen Klangobjekte zeigt Wien Modern bei der Wien-Premiere der kongenialen Brüder Michel & André Décosterd (ab Mittwoch, 30. Oktober). Die beweglichen Wunderwerke aus dem Schweizer Jura sind präzise wie die dort erzeugten Uhren, haben aber ungleich größere Bühnenpräsenz. Der gelernte Orgelbauer und Musiker André Décosterd und der Architekt, Künstler und Fotograf Michel Décosterd bauen seit 1997 unter dem Namen Cod.Act gemeinsam Maschinen und Objekte, die Räume und Bewegungen in Klang übersetzen und dabei ein überraschendes, quasi organisches Eigenleben entfalten. Cycloïd-E setzt sichtbare Wellen- und Pendelbewegungen in Bezug zur Entwicklung von Schallwellen. Die aufgrund ihrer Fragilität nur selten zu erlebende Installationsperformance πTon kombiniert die Verrenkungen und Windungen eines langen, loopförmigen Gummischlauchs mit der Echtzeit-Synthese menschlicher Stimmklänge. πTon/2, als einziges Werk bis zum Ende des Festivals im MAK zu erleben, erzeugt bei langsamen Kontraktionen und Ausdehnungen Klänge, die tiefen Atemzügen ähneln. Sobald die Bewegungen schneller und heftiger werden, ändern sich auch die Töne im Inneren, wie ein nervöser Strom.
Jedes der vier großen Orchesterkonzerte im Festival Wien Modern 2024 lädt dazu ein, die Standards der klassischen Sitz- und Rollenverteilung zwischen Musik und Publikum zumindest einen Moment lang hinter sich zu lassen. Bei der Eröffnung (Mittwoch, 30. Oktober) – wieder im ausgeräumten Großen Saal des Wiener Konzerthauses – beginnt das spektakulär mit Terretektorh für 88 im Publikumsraum verteilte Musiker:innen. Die selten zu erlebende Raumkomposition von Iannis Xenakis hat auch rund 60 Jahre nach ihrer Entstehung nichts von ihrer visionären Kraft verloren. Vor zehn Jahren erhielt John Luther Adams den Pulitzer-Preis für ein hypnotisches Slow-Motion-Stück zum Klimawandel: Become Ocean lässt unablässig ansteigende Klangwellen über das Publikum durch den Raum rollen. Das jüngste Werk des Abends ist die erste von vier Gelegenheiten im Festival, die Trägerin des Erste Bank Kompositionspreises 2024 kennenzulernen: Nina Šenk hat passend zu diesem außergewöhnlichen Konzertabend eine Raumversion ihres Tripelkonzerts Flux komponiert. Übrigens: Herzlichen Dank an Ingo Metzmacher dafür, dass er bei unverändertem Programm kurzfristig die Leitung von Marin Alsop übernimmt.
Er war Dirigent der ersten Stunde bei Wien Modern und hätte auch dieses Konzert mit den Wiener Symphonikern (Donnerstag, 31. Oktober) dirigieren sollen; nach seinem überraschenden Tod im März 2024 (kurz nach seinem 80. Geburtstag) wurde Péter Eötvös nun zum Widmungsträger dieses Abends. Solist in seinem Bratschenkonzert Respond ist Antoine Tamestit, Dirigentin (erstmals am Pult der Wiener Symphoniker) Elena Schwarz. Gemeinsam mit Pierre-Laurent Aimard übernehmen beide den Solopart in Dieter Schnebels réactions II – das «Orchester», mit dem sie in Dialog treten, ist entsprechend Schnebels spielerischer Partitur allerdings das Publikum. Das hochvirtuose Konzert für Orchester von Nina Šenk wird dann wieder von den Wiener Symphonikern übernommen, wie auch im für Aimard komponierten Klavierkonzert von Clara Iannotta, die als Komponistin im Fokus im Musikverein bis zum 04.11. gleich mit fünf Werken zu erkunden ist.
Der künstliche Mensch – Die Puppe, die Figur, der Android – verrät drei Träume der Menschheit: Schöpfermacht, Vollkommenheit, Unsterblichkeit. Noch sind die technischen Homunkuli von der Komplexität organischen Lebens weit entfernt, noch hat keine KI den Turingtest bestanden, aber das Ziel steht fest: Die künstlichen Doppelgänger:innen sollen ihre Schöpfer:innen nicht nur nachäffen, sondern ihnen geistig ebenbürtig, sogar überlegen sein – eigenständige Geschöpfe, den Vorbildern ein Vorbild. Im Dunkel reichen allerdings immer noch eine Vogelscheuche und ein wenig Phantasie, um der Materie Geist zu verleihen. Christof Dienz’ Musik für Ensemble, wortlose Stimme und den automatischen Trommler von Jakob Scheid reflektiert das Befremdende im Ähnlichen. Kristine Tornquist und die Schauspieler:innen des Serapions Ensembles beleuchten dazu die rätselhafte Beziehung von Menschen und ihren Puppen (ab Freitag, 01. November im Reaktor).
Die Verantwortung und das Verhältnis von Individuum und Kollektiv, nicht «im Versus», sondern «im Miteinander», rücken bei Maja Osojnik in den Fokus, ebenso die Frage der freien Gestaltung, das Verhältnis zwischen Interpretation und Improvisation im vorgegebenen Rahmen, den eine grafische Partitur per se mit sich bringt. Durch das improvisatorische Element wird ihr neues Werk Doorways #09 (Samstag, 02. November) zu einer virtuellen beweglichen Konstruktion, die sich in ständiger Metamorphose befindet. Die Bewegung durch das Klangenvironment im Palmenhaus sorgt für individuelle Erfahrungen von Raum und Zeit. Als Inspiration dafür dient der Film Cube von Vincenco Natali aus dem Jahr 1997. Die performative Klanginstallation ist wie ein interaktives Spiel zu betrachten, eine Art «Hörgymnastik».
«Eigentlich ist es mein Bedürfnis, zurzeit nur mehr Werke für den Frieden zu schreiben. Dann stellt sich die Frage, was kann Musik? Kann sie überhaupt zu Frieden beitragen?» Johanna Doderers Antwort in Form der Friedensmesse (Sonntag, 03. November) in der Wiener Hofburgkapelle lautet: Musik kann das Unausgesprochene sagen und Wahrnehmungen schärfen, berühren, die Menschen «seelisch öffnen», die Kraft und den Mut fördern, um zu einem friedlichen Miteinander zu stehen.
Zum runden Musikvereins-Bühnenjubiläum präsentiert sich das Ensemble Kontrapunkte (Sonntag, 03. November) mit einem entschlossen eklektischen Programm, das die besondere Position dieses Ensembles in der Wiener Neue-Musik-Landschaft unterstreicht: narrativ in Sânziana-Cristina Dobrovicescus neuem Quasikonzert, mit Ecken, Kanten und Mut zum Geräusch bei Clara Iannotta, theatral in Mauricio Kagels Finale, mit opulentem Schönklang bei Claude Vivier und schließlich mit einem der kitschigsten, aber auch großartigsten Momente der jüngeren Musikgeschichte, Gavin Bryars’ Jesus’ Blood never failed me yet.
Wien Modern – aktueller Hinweis
Wir bedauern sehr, dass der Cellist des Arditti Quartet sich wenige Tage vor Beginn des geplanten großen Jubiläumsprojekts ARDITTI 50 (01./02.11.2024 Wiener Konzerthaus, 04./05.11.2024 Musikverein) den Arm gebrochen hat, und wünschen ihm gute Genesung. Im Blick auf die seit Monaten laufenden intensiven Vorbereitungen und Proben des Quartetts für dieses Projekt haben wir uns gemeinsam entschieden, die Integrität des Programms wie des Quartetts zu wahren und nicht kurzfristig nach Ersatzmöglichkeiten für Teile des Programms zu suchen. Wir arbeiten daran, alle vier Konzerte unverändert auf 2025 zu verschieben; die neuen Daten werden so bald wie möglich angekündigt. Festivalpässe und Einzelkarten behalten ihre Gültigkeit. Wir danken sehr für Ihr Verständnis.