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Begehren

Beat Furrer

Musiktheater nach Texten von Cesare Pavese, Günter Eich, Ovid und Vergil (2001) – 90' (konzertante Aufführung ǀ Beat Furrer 70)

Beat Furrer Komposition, Libretto, musikalische Leitung ǀ Christine Huber, Wolfgang Hofer Mitarbeit Libretto ǀ Klangforum Wien | Cantando Admont | Sarah Aristidou Sopran | Christoph Brunner Sprecher | Markus Wallner, Peter Böhm Klangregie

Nach Die Blinden und Narcissus ist Begehren Furrers drittes Musiktheater und zählt zusammen mit dem Hörtheater FAMA nach Arthur Schnitzler zu seinen erfolgreichsten szenischen Werken. «Und wandte mich um» – das ganze Drama des Orpheus in einem Moment zusammengefasst. In der ersten Szene von Beat Furrers Begehren stürzt die Musik, die zuvor eine vielschichtige Bewegung aufwärts vollzogen hatte, bei diesem Satz ins Bodenlose. Alles, was Furrers Musiktheater erzählt, ist in der Retrospektive zusammengefasst: Orpheus’ Tragödie des Sehens, die Unmöglichkeit der Begegnung, das Begehren. «Ich suchte eine Vergangenheit wiederzuerlangen», so formuliert Cesare Paveses Untröstliche die Selbstanklage des Orpheus: «Ich suchte, als ich klagte, nichts als mich selbst.» In zehn Szenen fokussiert Beat Furrers Musiktheater Begehren, 2001 in Graz uraufgeführt, den Mythos des Orpheus. Neben den antiken Quellen von Ovid und Vergil verwendet Furrer Texte aus Günter Eichs Hörspiel Geh nicht nach El Kuwehd (1954) sowie Cesare Paveses Der Untröstliche (1947) und Hermann Brochs Der Tod des Vergil (1945). Das dramatische Verfahren, das er für Begehren entwickelte, vergleicht Furrer mit der Arbeit eines Restaurators, der Schicht für Schicht ein Palimpsest entziffert. Übereinandergelegte Textebenen, in Klanglichkeit umgesetzt, reflektieren die Geschichte zweier Figuren. Er und Sie sind Archetypen, die Stationen der gegenseitigen Nichterreichbarkeit, der Verzweiflung des Begehrens durchschreiten. In seinem Musiktheater Begehren entwickelt Beat Furrer eine neuartige musikdramatische Erzählweise. Das Musiktheater erzählt in der Retrospektive: Orpheus’ Tragödie des Sehens, die Unmöglichkeit der Begegnung, das Begehren. Musikalisch ereignet sich in dieser Anfangsszene eine Überlagerung vielschichtiger klanglicher Phänomene in Orchester und Stimmen, die sich aus dem Zischlaut des Wortes «Schatten» ableitet. Es erklingt ein komplexes Total, das man als eine Matrix bezeichnen kann, die in den folgenden Szenen in ihren einzelnen Aspekten immer wieder neu auftaucht. Ohne eine äußere Handlung zu konkretisieren, scheinen mehrere Ebenen der Orpheus-Geschichte auf: Zwei Figuren, ambivalent in der Zuordnung, bewegen sich in ihrer jeweils fremden Sprechweise aufeinander zu: Sie beginnt singend, sehr stilisiert – Furrer vergleicht sie mit der Abbildung auf einer antiken Vase – und entwickelt sich im Verlauf immer mehr zur gesprochenen Sprache hin. Er hingegen – als würde er sich daran erinnern, Orpheus gewesen zu sein – vollzieht eine Entwicklung vom Sprechen zum Singen hin. Sie und Er bewegen sich in ihrer Artikulation in gegensätzliche Richtungen, sprechen verschiedene Sprachen, repetieren ihre Texte, Befindlichkeiten. Im Punkt größter Annäherung findet Sie zum Sprechen, beide treffen sich im Klang des Atmens. Aus dem Erzählen im Rückblick entwickelt Furrer eine Konzeption der Gleichzeitigkeit. In der Erinnerung ist eine Geschichte komplett, mit Entwicklung und Konsequenz präsent, entsprechend ist in allen Szenen das ganze Drama musikalisch enthalten. Und doch ist die Szenenfolge von Begehren eine Erzählung, vollzieht die Geschichte des Orpheus nach und nähert sich dem Mythos aus verschiedenen Perspektiven. Furrers Erzählweise schafft einen Raum, der im Lauf des Stücks in einer zugrundeliegenden Struktur der musikalischen und der erzählerischen Wiederholung abgetastet wird. Es entsteht ein fortgesetztes Umkreisen der Geschehnisse. Beide Figuren verharren in ihrer Zuständlichkeit, in dem Beleuchten der Ereignisse aus der Retrospektive. Er rekapituliert seine Suche, Sie spricht zu ihm, mit einem Text von Günter Eich, der eine verlassene Frau die Entfernung vom Geliebten ausdrücken lässt: «[…] liegt doch die Nacht zwischen uns wie ein schwarzes Gebirge […].» Am Schluss rückt Sie in den Vordergrund. Er ist nur noch in einer Atemstudie präsent, nähert sich aber in kleinen melodischen Floskeln dem Gesang an – gipfelnd in der virtuosen «Aria», in der Sie ihren Monolog der Unerreichbarkeit hält: Musikalisch ist dies eine Synthese aus geräuschhaftem Sprechen, Singen, Klagen und Atmen, inhaltlich eine utopische Vereinigung. Ihr «Hörst du? Ich kann zu dir sprechen, als wärst du hier» schlägt den Bogen zu ihrem Rufen am Beginn, ihr Fazit, »du kamst aus der einen Einsamkeit und gehst in die andere«, zieht den Schlussstrich. (Marie Luise Maintz)

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2024