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Respond

Péter Eötvös (1997–2021)

für Viola solo und 32 Musiker:innen (1997/2021) – ~ 16´ (Péter Eötvös in memoriam)

Von der Leichtigkeit des Seins können die Protagist:innen von Anton Tschechows Drama Drei Schwestern über die Enge der russischen Provinz, der die Schwestern Olga, Mascha und Irina sowie ihr Bruder Andrej trotz ihres Mantras «Nach Moskau!» nicht entkommen können, nur träumen. Péter Eötvös hatte sich das Stück zur Vorlage für seine 1998 in Lyon uraufgeführte Oper Tri Sestri genommen, mit der er seinen Ruhm als Opernkomponist begründete. Parallel zur Arbeit an Tri Sestri erhielt Eötvös einen Kompositionsauftrag der Filarmonica della Scala di Milano für ein Orchesterwerk. Diesem Auftrag kam er mit der Komposition von Replica nach, einer Art verkapptem Konzert für Viola und Orchester, das im März 1999 in Mailand unter Leitung des Komponisten und mit der Bratschistin Kim Kashkashian uraufgeführt wurde. 2020 unterzog Eötvös das Werk einer umfangreichen Revision, im Zuge derer die Besetzung von 49 auf 32 Orchestermusiker:innen verschlankt, gleichzeitig aber die kompositorische Substanz etwas erweitert wurde: Aus Replica wurde so Respond. Seine Grundeigenschaften behält das Stück jedoch auch in der Neufassung: Mit der zeitgleich zur früheren Fassung entstandenen Oper Tri Sestri, deren drei Teile jeweils in einer großen Abschiedsszene gipfeln, teilt es den Grundgestus des Abschiednehmens – eine Stimmung, die erheblich durch die herb-melancholischen Klangfarben der Solo-Viola geprägt wird. Ebenso trifft immer noch Eötvös’ eigene Beschreibung der formalen Bedeutung des Solo-Instruments zu: «Im Verlauf der Partitur wird die Solobratsche dann als ein ganz freies, geradezu ‹eigensinniges› Individuum greifbar, das sich nur selten zu einem Gleichschritt mit dem Orchester entschließen kann, und dies, obwohl sie durchaus mit einzelnen Instrumenten kommuniziert. […] Der Dialog, der so entsteht, lässt die verschiedenen Argumente zu Wort kommen, die wie Splitter eines Spiegels ein Bild zurückwerfen, dessen Ur-Bild nur noch zu ahnen ist.» Dieser Dialog, der die Bandbreite von gegenseitigem Sich-Ergänzen wie Sich-Widersprechen, von Antwort, Erwiderung oder Entgegnung gleichermaßen umfasst, führt zu dem Titel Respond. Dem entspricht ein sich permanent wandelndes Verhältnis von Solo- und den übrigen Instrumenten: Mal steht die Viola unangefochten im Vordergrund, mal droht sie im allgemeinen (Antwort-)Getümmel unterzugehen. Aus dieser Form des Dialogs entsteht eine Dramatik, die sich nicht nur an der Form des traditionellen Solokonzerts mit seiner Gegenüberstellung von Solo und Tutti orientiert, sondern auch am instrumentalen Theater der Avantgarde etwa von Mauricio Kagel, Dieter Schnebel, Karlheinz Stockhausen (dessen Mitarbeiter der junge Eötvös war) oder in jüngerer Zeit von Lucia Ronchetti. Mit einer in sich etwas widersprüchlichen Klanggeste eröffnet die Solo-Viola das Stück: in resolutem Forte, selbstbewusst, aber zugleich mit fragilen Flageoletts, zu denen unbestimmte Leere-Quint-Klänge in den Geigen und der Harfe ertönen. Dichtere Tuttipassagen wechseln sich ab mit Episoden, in denen ein einzelnes Instrument solistisch in Interaktion mit der Viola tritt, beispielsweise das Fagott oder auch das Flügelhorn in einer kurzen, aber wichtigen Intervention kurz vor Schluss. Schnell verdichtet sich der Satz, während das Soloinstrument zunehmend aggressiv agiert. Im letzten Drittel weist das Orchester den Individualismus der Viola mit homophonen Ausbrüchen energisch in die Schranken. Daraufhin schweigt die Solo-Viola eine Weile, ehe sie sich am Ende in der Coda förmlich an einem Ton festbeißt, dem eingestrichenen g, das sie stets wiederholt, allerdings mit unterschiedlichen Klangfarben auf unterschiedlichen Saiten. Auf diesem Ton insistiert sie, bis alle anderen Instrumente aufgeben und sie allein übrigbleibt – ohne Antwort.
(Benjamin Wäntig anlässlich der Uraufführung von Respond durch die Staatskapelle Berlin an der Staatsoper Unter den Linden am 9. Jänner 2022)

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2024