Streichquartett Nr. 2 fis-moll op. 10 für zwei Violinen, Viola, Violoncello und eine Sopranstimme
Arnold Schönberg (1907–1908)
fis‐moll op. 10 für zwei Violinen, Viola, Violoncello und eine Sopranstimme (1907–1908) – 30´ (Arditti 50.4)
1. Mäßig
2. Sehr rasch
3. Litanei. Langsam
4. Entrückung. Sehr langsam
Die Wiener Jahre um 1908 bedeuteten für Arnold Schönberg eine Phase künstlerischen Aufbruchs, der mit einer schweren persönlichen Krise einherging. Schönbergs Familienleben wurde durch das intime Verhältnis seiner Frau Mathilde zum Maler Richard Gerstl empfindlich gestört. Gerstl hatte sein Atelier im Haus der Schönbergs bezogen (9. Wiener Gemeindebezirk, Liechtensteinstraße) und beide sowohl unterrichtet wie auch porträtiert. 1907 begann Schönbergs intensive Betätigung als Maler: ein weiterer Reflex seines Ausdrucksbedürfnisses, innere Visionen zu ästhetisieren. Seine private Misere, die durch die Enttäuschung nach Gustav Mahlers Fortgang nach Amerika vertieft wurde, kompensierte Schönberg zwischen 1907 und 1908 durch den Bruch mit der musikhistorischen Tradition: Auflösung der Tonalität in der Atonalität und Übergang zur expressionistischen Periode, die einen zündenden Moment in der Kompositionsentwicklung unseres Jahrhunderts markieren sollte. Das Zweite Streichquartett fis-Moll op. 10 stellt sowohl in der Materialverwendung (Verknappung der Form, Lösung vom Konsonanzbegriff) wie auch gattungshistorisch (die Beteiligung einer Sopranstimme löst die Besetzungsnorm des Streichquartetts auf) eine Schnittstelle innerhalb dieses Entwicklungsprozesses dar. Nach dem Ersten Streichquartett d-Moll op. 7 und der Kammersymphonie op. 9 wandte Schönberg sich nun wieder von der Einsätzigkeit ab und kehrte zur mehrsätzigen zyklischen Form zurück. Die erste Eintragung zu op. 10 findet sich im dritten Skizzenbuch unter dem Datum 9. März 1907 (Vollendung des Chors Friede auf Erden op. 13). Dritter (11. Juli 1908), zweiter (27. Juli 1908) und wahrscheinlich auch vierter Satz aus op. 10 wurden in Gmunden am Traunsee abgeschlossen. Ähnlich zur Ersten Kammersymphonie unterzog Schönberg auch sein Zweites Streichquartett mehreren Revisionen (u. a. richtete er es mehrfach für Streichorchester ein). Im ersten Satz des Quartetts wird die thematische entscheidender als die tonale Disposition zum Strukturträger, da die Lockerung von tonikalen Beziehungspunkten nur begrenzt zur Ausbildung der Form beiträgt. Der nur wenig kontrastierende Sonatensatz enthält fünf thematische Gedanken, die sich in motivischen Abwandlungen auf das erste Thema der Hauptgruppe beziehen, welche auf der Tonart fis-Moll beruht; in der Seitengruppe werden die tonalen Verhältnisse verschleiert. Mit dem Kontrast fis-Moll/C-Dur beginnt die Durchführung, deren harmonische Bindung bis auf weitere Seitenblicke zur Grundtonart in der Schwebe bleibt. Die Reprise bestätigt zunächst keine Wiederholung der Tonart, sondern wird über einen a-Moll-/d-Moll-Komplex eingeführt. Wie im zeitlich verwandten A-cappella-Chor Friede auf Erden zeigt sich auch hier eine tendenzielle Abneigung gegen formbildende Modulationen. Das thematische Material im Scherzo (d-Moll) besteht aus zwei Komplexen. Der erste lässt als Segmentableitung eine Erinnerung an das Hauptthema des ersten Satzes anklingen, die von einem stark kontrastierenden, durchführungsartigen Teil abgelöst wird. Im Trio erklingt in der zweiten Violine als Zitat die Melodie aus dem Wiener Volkslied O du lieber Augustin, alles ist hin, dessen Verwendung in der Forschung bisweilen als biografische (Schönbergs familiäre Krisensituation) und kompositionshistorische Chiffre (Abwendung von der funktionsgebundenen Tonalität) gedeutet wurde. Die beiden Gedichte Litanei und Entrückung von Stefan George aus dessen 1907 in einer Privatauflage erschienenen Gedichtsammlung Der siebente Ring vertonte Schönberg in einem Variationensatz sowie einem von traditioneller Form gelösten Finale, das über chromatischen Komplexen und alterierter Quarten-Akkordik «nie gehörte Harmonien» (Anton Webern) exponiert, die «frei von jeder tonalen Beziehung» sind. Das Thema der Litanei konstituiert sich aus vier motivischen Ableitungen von Kopfsatz und Scherzo, die innerhalb des programmatischen Ablaufs im Sinne von «Leitmotiven» fungieren; der dritte kann als Durchführungsabschnitt der ersten beiden Sätze interpretiert werden. Die folgenden Variationen des modulatorisch reduzierten, jedoch kontrapunktisch reichen es-Moll-Satzes – in der ersten setzt die Gesangsstimme mit einer Melodie ein, welche im Folgenden thematische Selbstständigkeit behält – orientieren sich an der poetischen Form. «Der vierte Satz, Entrückung, beginnt mit einer Einleitung, die die Abreise von der Erde zu einem anderen Planeten beschreibt. Der visionäre Dichter berichtet hier von Erscheinungen, die vielleicht bald bestätigt werden. In dieser Einleitung wurde versucht, die Befreiung von der Gravitation darzustellen – das Passieren durch die Wolken in zunehmend dünnere Luft, das Vergessen aller Sorgen des Erdenlebens.» (Schönberg, Bemerkungen zu den vier Streichquartetten)
«Ich löse mich in Tönen» – ein Vers aus Georges Entrückung – mag als Motto über der zukunftweisenden Tonsprache des nach klassischem Formenschema gebildeten vierten Satzes stehen: Introduktion – Haupt- (1.–3. Liedstrophe) und Seitengruppe (4.–5. Strophe) – Durchführung (6.–8. Strophe) – Coda. Neben Formteilen, in welchen keine Tonart ausgedrückt ist (vor allem in der Introduktion, welche zwar «zwölftönige» Felder aufbaut, diese jedoch auf der Basis von Quintrelationen organisiert), wird stellenweise auffallend tonal kadenziert. Ähnlich zum Scherzo ist der Satzverlauf weitgehend tonal schwebend. Der Farbwert des Klangs und sein expressiver Ausdruck waren dem Komponisten in der Interpretation der Entrückung vorrangig, was eine Quelle von op. 10 mit seinen handschriftlichen Vortragsanweisungen – etwa an der musikalisch transzendent interpretierten Stelle des sich hebenden, duftigen Nebels – andeutet: «Das Ganze muss wie ein Hauch sein. Nichts darf hervortretend spielen. Bloß der Gesang darf hervortreten, aber auch der nur durch die Klangfarbe, nicht durch die Klangstärke.» (Therese Muxeneder, © Arnold Schönberg Center)
Litanei
Tief ist die trauer, die mich umdüstert,
Ein tret ich wieder, Herr! in dein haus …
Lang war die reise, matt sind die glieder,
Leer sind die schreine, voll nur die qual.
Durstende zunge darbt nach dem weine.
Hart war gestritten, starr ist mein arm.
Gönne die ruhe schwankenden schritten,
Hungrigem gaume bröckle dein brot!
Schwach ist mein atem rufend dem traume,
Hohl sind die hände, fiebernd der mund.
Leih deine kühle, lösche die brände,
Tilge das hoffen, sende das licht!
Gluten im herzen lodern noch offen,
Innerst im grunde wacht noch ein schrei …
Töte das sehnen, schließe die wunde!
Nimm mir die liebe, gib mir dein glück!
(Stefan George)
Entrückung
Ich fühle luft von anderem planeten.
Mir blassen durch das dunkel die gesichter
Die freundlich eben noch sich zu mir drehten.
Und bäum und wege die ich liebte fahlen
Dass ich sie kaum mehr kenne und du lichter
Geliebter schatten – rufer meiner qualen –
Bist nun erloschen ganz in tiefern gluten
Um nach dem taumel streitenden getobes
Mit einem frommen schauer anzumuten.
Ich löse mich in tönen, kreisend, webend,
Ungründigen danks und unbenamten lobes
Dem großen atem wunschlos mich ergebend.
Mich überfährt ein ungestümes wehen
Im rausch der weihe wo inbrünstige schreie
In staub geworfner beterinnen flehen:
Dann seh ich wie sich duftige nebel lüpfen
In einer sonnerfüllten klaren freie
Die nur umfängt auf fernsten bergesschlüpfen.
Der boden schüttert weiß und weich wie molke.
Ich steige über schluchten ungeheuer,
Ich fühle wie ich über letzter wolke
In einem meer kristallnen glanzes schwimme –
Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer
Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme.
(Stefan George)
Produktionen
- 2024
-
ARDITTI 50.1 / ARDITTI 50.2 / ARDITTI 50.3 / ARDITTI 50.4
Streichquartett Nr. 2 fis-moll op. 10 für zwei Violinen, Viola, Violoncello und eine Sopranstimme(1907–1908 EA)- 120'
05.11.2024 20:00, Musikverein, Brahms-Saal
- 2022
-
GEORG BASELITZ | QUATUOR DIOTIMA | JULIANE BANSE
Streichquartett Nr. 2 fis-moll op. 10 für zwei Violinen, Viola, Violoncello und eine Sopranstimme(1907–1908)- 120'
16.11.2022 19:30, Musikverein, Gläserner Saal
- 2016
-
Quatuor Diotima: Schönberg, Beethoven, Boulez 1 / Quatuor Diotima: Schönberg, Beethoven, Boulez 2 / Quatuor Diotima: Schönberg, Beethoven, Boulez 3 / Quatuor Diotima: Schönberg, Beethoven, Boulez 4
Streichquartett Nr. 2 fis-moll op. 10 für zwei Violinen, Viola, Violoncello und eine Sopranstimme(1907–1908)- 120'
17.11.2016 19:30, Wiener Konzerthaus, Mozart-Saal