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Terretektorh

Iannis Xenakis (1965–1966)

 für 88 im Raum verteilte Musiker:innen (1965–1966) – 18´

Terretektorh, das dem Orchesterstück Nomos Gamma (1967–1968) voranging, war eine Innovation in Hinblick auf die räumliche Verteilung des Orchesters und schlug zwei grundlegende Veränderungen vor:
a. die quasi-stochastische Verteilung der Orchestermusiker zwischen dem Publikum. Das Orchester befindet sich im Publikum, und das Publikum befindet sich im Orchester. […] Alle beweglichen Objekte, die das Hören oder Sehen behindern könnten (Sitze, Bühne etc.), sollten vor der Aufführung aus dem Saal entfernt werden. In Ermangelung einer neuen Art von Architektur, die für alle Gattungen zeitgenössischer Musik erst entworfen werden muss, da ihnen weder Amphitheater und noch viel weniger normale Theater oder Konzertsäle adäquat sind, würde auch ein großer Festsaal, der im Idealfall rund ist und einen Durchmesser von mindestens 40 Metern hat, dem Zwecke dienlich sein. In der Verteilung der Musiker manifestiert sich eine völlig neue kinetische Vorstellung von Musik, wie sie mit modernen elektroakustischen Mitteln nicht zu realisieren wäre. […] Denn während Zuspielungen von 90 Magnettonbändern über 90 im ganzen Raum verteilte Lautsprecher undenkbar sind, ist es im Gegensatz dazu sehr wohl möglich, derartige akustische Effekte mit einem klassischen 90-köpfigen Orchester zu erzielen. Die musikalische Komposition wird auf diese Weise ungemein bereichert, wird gleichsam in wirbelnde Rotation versetzt. Die Geschwindigkeiten und Beschleunigungen der Klangbewegungen können verfolgt und erlebt werden, wie sich auch neue und kraftvolle Funktionen wie z. B. logarithmische oder archimedische Spiralen in Zeit und Raum umsetzen lassen. Geordnete oder ungeordnete Klangmassen, die wie Wellen gegeneinander rollen etc., all das wird möglich sein. Terretektorh ist somit ein Sonotron: ein Beschleuniger von Klangpartikeln, ein Desintegrator von Klangmassen, ein Synthesizer, der die Zuhörer in Klang und Musik hüllt und eine körperliche Nähe schafft. Zerrissen wird der psychologische und auditive Vorhang, der das Publikum vom Orchester trennt, wenn dieses weit von ihm weg auf einem Podest und oft genug in einer Vertiefung platziert ist. Die Orchestermusiker entdecken wieder ihre Verantwortung als Künstler:innen, als Individuen.
b. Um die Klangpalette des Orchesters zu erweitern und mit der oben erwähnten Verteilung die größte Wirkung zu erzielen, wird der Ensembleklang in einem trockenen, geräuschhaften Ton gefärbt. Zu diesem Zweck hat jeder der 90 Musiker neben seinem üblichen Saiten- oder Blasinstrument auch drei Perkussionsinstrumente – und zwar Holzblock, Maracas und Peitsche – sowie kleine Sirenenpfeifen in drei Registern, deren Töne wie Flammen aus dem Klangbild züngeln. Wenn es notwendig erscheint, kann so jeder Zuhörer von einem Hagelschauer umgeben sein, ja sogar vom leisen Rauschen der Pinienwälder, im Grunde von jeder Atmosphäre, jedem linearen Konzept, ob statisch oder in Bewegung. Schließlich wird er sich entweder auf der Spitze eines Berges mitten in einem Sturm wiederfinden, der ihn von allen Seiten attackiert, oder in einer zerbrechlichen Barke, hin- und hergeworfen auf dem offenen Meer, oder aber in einem Universum, das übersät ist mit kleinen Klangsternen, die sich als kompakte Nebelwolken bewegen oder einsam ihre Bahnen ziehen. (Iannis Xenakis in Formalized Music. Hillsdale 1992; Übers.: Friederike Kulcsar, © Wiener Konzerthaus)

Produktionen

2024
2009
  • RSO II

    Terretektorh(1965–1966)- '
    20.11.2009 19:30, Wiener Konzerthaus, Großer Saal
    20.11.2009 19:30, Wiener Konzerthaus, Großer Saal