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Tetras

Iannis Xenakis (1983)

für Streichquartett (1983) – 16´ (Arditti 50.3)

«Musik ist keine Sprache. Ein musikalisches Werk ist wie eine komplexe Gesteinsformation mit eingravierten Rillen und Mustern, die Menschen auf tausend verschiedene Arten entziffern können.» (Iannis Xenakis)

Über die Grenzen hinaus: Iannis Xenakis
«Der Hörer muss gepackt werden und – ob er will oder nicht – in die Flugbahn des Klangs gezogen werden, ohne dass dazu eine besondere Vorbildung nötig wäre.» Schon 1955 deutete Iannis Xenakis mit dieser Maxime an, dass sich niemand den gewaltigen Anziehungskräften seiner Musik wird entziehen können. Besonders gilt das für seine (berühmten) Schlagzeugwerke und Stücke für Streicher. «Ich habe ein besonderes Gespür für Streichinstrumente«, so Xenakis einmal. Und wie radikal er dieses Sensorium auslebte beziehungsweise umsetzte, dokumentieren seine vier Streichquartette. Erstaunlicherweise ließ er sich dabei sage und schreibe 21 Jahre Zeit, bis er auf sein Debüt-Quartett von 1962 mit Tetras (Vier) endlich sein zweites folgen ließ. Auslöser dafür war Xenakis’ Bekanntschaft mit dem Arditti Quartet, das das Werk im Juni 1983 in Lissabon uraufführte. Hatte Xenakis schon in seinen Orchesterwerken die Streicher immer bis an ihre spieltechnischen Grenzen geführt, legte er nun mit dem Streichquartett die Messlatte noch ein Stück höher. Denn bis auf das sich dahinschlängelnde Glissando, mit dem die Erste Geige das Werk eröffnet, befinden sich die vier Stimmen durchweg und gemeinsam in einem Ausnahmezustand. Bedrohlich sich aufstellende Tonschleifen, beängstigend zusammengepresste Akkordwolken, durch die dünne Klangstrahlen geschleudert werden, sowie bis zum Bersten gespannte Tonfäden und schroffe Geräuschattacken – aus all diesen elementaren Wendungen und Bewegungen entsteht ein Sog, ein Strudel, dem man sich nicht entziehen kann. Durchgängig müssen die vier Musiker dabei alles geben – bis sich das archaisch anmutende Soundgemisch plötzlich in Luft auflöst. In komplette Stille. (Irvine Arditti)

In der Sauna mit Iannis Xenakis
Wir probten in Paris für ein Konzert, das wir 1984 auf dem Festival d’Automne geben sollten. Xenakis war anwesend, wie so oft, wenn wir seine Musik spielten. Während einer Pause in der Generalprobe gingen wir in ein Café in der Nähe. Es regnete in Strömen, und wir mussten über die Straße rennen, weil wir Angst hatten, nass zu werden. Im Café war das Fenster zur Straße hin durch Kondenswasser sehr beschlagen. Ich machte eine Bemerkung wie: «Was für ein ekelhafter Tag», und Xenakis antwortete: «Oh nein, es ist ein schöner Tag.» Zuerst lachte ich, weil ich dachte, er mache Witze, aber bald dämmerte mir, dass er es todernst meinte. Seine Vorstellungen vom Wetter und von Klängen gründeten in einer anderen Perspektive. Es war uns bereits gelungen, Klänge zu finden, die manche als hässlich, er aber als «schön» bezeichnen würde. Im Sommer 1985 verbrachten wir einen ganzen Monat mit Iannis und gaben Konzerte und Workshops in Aix-en-Provence, Salzburg und Delphi. Wir gehörten nun zum inneren Kreis der von ihm ausgewählten Künstler. Es war schön, mit ihm in seinem Heimatland Griechenland zu sein. Ich erinnere mich an Konzerte unter freiem Himmel und an Musik, die im Wind weht. Im folgenden Jahr, im August 1986, wurden wir zum Festival Time of Music in Viitasaari, Finnland, eingeladen. Iannis war auch dabei, als wir mehrere seiner Stücke aufführten. Ich erinnere mich an einen sehr amüsanten Moment, als viele der Finnen aus der Gruppe Avanti in der Sauna am Seeufer waren. Es ist eine alte finnische Tradition, in der Sauna zu schwitzen und dann in den eiskalten See zu springen. Sogar im August war der See sehr kalt. Iannis und ich saßen nebeneinander auf einer der unteren Saunabänke, und das Einzige, was mir einfiel, war, mit ihm über Musik zu reden und ihm unsinnige Fragen zu stellen, etwa, wer sein Lieblingskomponist der Gegenwart sei. Es herrschte ein langes Schweigen, und dann sagte er: «Brahms.» Ich stellte die Frage erneut, und nach einem noch längeren Schweigen erhielt ich dieselbe Antwort. Daraus habe ich gelernt, dass man einen Komponisten niemals fragen sollte, was er von anderen Komponisten hält. Die Finnen verschwanden dann alle und sprangen johlend in den See. Es war wohl eine der seltsamsten Situationen in meinem Leben, mit Iannis Xenakis nackt in der Sauna zurückgelassen zu werden. Wir beschlossen einstimmig, dass dies nicht der richtige Ort sei, um über Musik zu sprechen, also gingen wir und zogen uns an. (Irvine Arditti)

Tetras war das zweite Streichquartett von Iannis Xenakis. Das Stück kann grob in neun Abschnitte gegliedert werden, wobei die Abschnitte 1 bis 3 sowie der letzte Abschnitt 9 im Gegensatz zu den mittleren Teilen vor allem von unbestimmten Tonhöhen geprägt sind. In Teil 1 und 3 sowie im abschließenden 9. Abschnitt dominieren Glissandi, also jene Spieltechnik, derer sich Xenakis häufig beim Komponieren für Streichinstrumente bedient. Es entsteht durch diese Gliederung insgesamt eine mit den Variablen A-B-A´ beschreibbare dreiteilige Liedform, wobei auch die ersten drei Abschnitte isoliert betrachtet als eine solche bezeichnet werden können: Abschnitte 1 und 3 sind in ihrem ständigen Dahingleiten als Glissando-Teile zu nennen, Abschnitt 2 als Geräuschteil. Nicht-oktavierende Skalen oder polyrhythmische Verklanglichungen vielstimmiger Strukturen: konträr zu den äußeren Abschnitten ist der Mittelteil primär vom Spiel mit bestimmten Tonhöhen geprägt. Es entsteht eine äußerst virtuose Klanglandschaft, die vielfältige Assoziationsräume eröffnet und in der sich immer wieder die von Xenakis beschriebenen Inspirationsquellen wiedererkennen lassen. Xenakis betrachtet ein Streichquartett definitiv nicht wie ein Gespräch von vier vernünftigen Leuten, so wie es Goethe bekannterweise in einem Brief an Zelter tut. Auch den oft bemühten Vergleich von Musik und Sprache lehnt Xenakis ab.

Produktionen

2024
2008
2001
1999
  • Arditti Quartett

    Tetras(1983)- 14'
    18.11.1999 19:30, Wiener Konzerthaus, Mozart-Saal

1992
  • Arditti Quartett

    Tetras(1983)- 16'
    16.11.1992 22:00, Wiener Konzerthaus, Schubert-Saal