Ein Baum. Entwurzelt. Der ins Leere fällt ...
Tanja Elisa Glinsner (2022)
für Orchester (2022) – 13' (Call for Scores Orchesterwerke Arnold Schönberg 2024)
Dem Kompositionsprozess ging eine intensive Auseinandersetzung mit Arnold Schönbergs Liederzyklus Das Buch der hängenden Gärten (1908) voraus, für den der Komponist 15 der 32 Gedichte aus dem dritten Teil von Stefan Georges Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänger und der Hängenden Gärten (1895) vertonte. Die «Hängenden Gärten» bezogen sich auf die sagenumwobenen Hängenden Gärten der Semiramis bzw. auf die Babylonischen Gärten. Schönbergs Zyklus erzählt die Geschichte eines Prinzen und seines sexuellen Erwachens. Im Fokus steht die Entwicklung des naiven Jünglings, der einen Garten betritt, um dort die Erfüllung seiner Sehnsüchte mit seiner Geliebten zu finden, und zum «wissenden und eingeweihten» Mann zu werden – bis er schließlich von seiner Geliebten verlassen wird. Mit der Trennung der Liebenden zerfällt auch der Garten: «Hohe blumen blassen oder brechen./Es erblasst und bricht der weiher glas […].» (Stefan George) Es ist eine zweifache Auflösung, die im weitesten Sinne auch als Metapher für die zeitlich einhergehende Auflösung der Tonalität aufgefasst werden kann.
Besonders interessant schienen mir jedoch jene Gedichte aus dem Zyklus, die Schönberg nicht vertonte: Sie bieten eine indirekte Klammer für die emotionale Auslebung der verbotenen Liebe, die sexuelle Emanzipation des Prinzen in den sagenumwobenen Babylonischen Gärten und deren Verfall. Nimmt man alle Teile, auch jene, die Schönberg wohl bewusst nicht aufnahm, erzählt der Zyklus von einem aus seinem Land vertriebenen Prinzen, der schließlich bis in die Selbstverleugnung getrieben wird – als wäre er ein Baum aus jenem Garten, den man gefällt hat. In meinem Orchesterwerk habe ich versucht, genau jene Geschehnisse außerhalb des Gartens nachzuempfinden, wobei der Garten zum Symbol für eine «heile Welt» wird, während sein Zerfall als ein Symbol für die Akzeptanz von Vergänglichkeit gelesen werden kann.
Die Verschmelzung des Verlusts von Heimat und Identität mit den intensiven emotionalen Ereignissen im Garten versuche ich mithilfe zweier weiterer Gedichte darzustellen: Ebene Landschaft von Marie Luise Weissmann und Der brennende Baum von Bertolt Brecht. Beide Texte behandeln die Entwurzelung eines Baumes – bei Weissmann durch Wasser, bei Brecht durch Feuer. Beides assoziierte ich mit prägenden Ereignissen, die zu einem Gefühl des Identitätsverlusts führen. Die fließenden Passagen (Weissmann) werden im Stück durch Schläge und krachendes Holz immer wieder (Brecht) «gebrochen». Ich selbst durfte nicht bei der Entwurzelung dabei sein. Wäre ich es gewesen, hätte ich zumindest Abschied nehmen können. So aber können nur die Folgen erspürt werden: Beide Formen der Zerstörung – Feuer und Wasser – werden hier nebeneinanderstehen und ergänzen einander zu einem vollständigen Bild. Die additive Kombination der beiden Texte führt zu einer Kumulation geballter Zerstörungskraft; sie birgt jedoch auch die Möglichkeit tröstlicher Wechselwirkungen von Synthese, gegenseitiger Aufhebung, Milderung und Negation.
Ein Baum. Entwurzelt. Der ins Leere fällt ist Kornelia Pommer gewidmet und wurde am 4. September 2022 im Rahmen des Composer-Conductor-Workshops Ink Still Wet im Auditorium Grafenegg vom Tonkünstler-Orchester Niederösterreich unter meiner Leitung uraufgeführt.
(Tanja Elisa Glinsner)
Produktionen
- 2024
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CLAUDIO ABBADO KONZERT
Ein Baum. Entwurzelt. Der ins Leere fällt ...(2022 EA)- 120'
29.11.2024 19:30, Musikverein, Großer Saal