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Finale

Mauricio Kagel (1980–1981)

mit Kammerensemble (1980–1981) – 25' (50 Jahre Kontrapunkte im Wiener Musikverein)

«Ich trage in mir die lateinische Welt und die jüdische, die mitteleuropäische genauso wie die französische und die italienische Kunst. Die Geburt im Schmelztiegel Argentinien hat für immer eine Erweiterung des Horizonts bewirkt.» Demgemäß nahm Mauricio Kagel sowohl Elemente verschiedener Kulturen in seine Arbeiten auf, wie er sich auch als («Gesamt-»)Künstler bewusst in Randgebiete der Musik wagte und mit Experimenten traditionelle Publikumsschichten «verschreckte». In seinen Werken des «musikalischen Theaters» komponierte er Aktionen aus, montierte Klänge aus der Umwelt über instrumental erzeugte, schrieb «Lesestücke», elektronische Musik und schließlich auch «Multimedia-Shows», in denen Akustisches in Optisches und Szenisches aufgelöst wird und zu einer Einheit findet. Es sind Werke, die den alten Traum eines Gesamtkunstwerks zu realisieren versuchten und hier deutlich weiterkamen als die Komponisten des 19. Jahrhunderts, gehen doch Musik, Bildkunst, Szene und Wort direkte Verbindungen ein, die einander durchdringen und beeinflussen und nicht nur rein äußerliche Zusammensetzungen sind. Da eine solche Synthese besonders gut mit Hilfe des Mediums Film gelingen konnte, trat Kagel auch auf diesem Gebiet in speziell eigenschöpferischer Weise hervor, wie u. a. mit dem Film Ludwig van für das Beethoven-Jahr 1970. In seinen späteren Jahren verschrieb sich Kagel in immer höherem Maße auch der reinen Instrumentalmusik, wobei er tonale Elemente in eigenwilliger Weise in das Geschehen einbaute, bisweilen etwas verfremdete, immer aber persönlich gestaltete. Auch theatralische oder gestische Aktionen wurden öfters integriert, wie dies in dem bei Wien Modern 37 gespielten, 1980–1981 im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks geschriebenen (und dort am 4. Dezember 1981 uraufgeführten) Finale mit Kammerensemble der Fall ist. Mauricio Kagel hat seine hier eingebrachten Intentionen selbst folgendermaßen umrissen: «Als Wolfgang Becker [1972–1997 WDR-Redakteur für neue Musik] mich um ein Musikstück zur Feier meines 50. Geburtstages am 24. Dezember 1981 bat, fand ich zunächst auf Anhieb den Titel des Werks. Es mag einigen makaber, anderen wiederum mit einem nekrophilen Beigeschmack erscheinen, wenn ich selbst solch sinnbeladenen Begriff gewählt habe. Mein Aberglaube hält sich jedoch in Grenzen. (Ich würde sicher kaum ein Requiem komponieren, ohne an Mozart und die Folgen eingehend zu denken; dieses scheint mir eine Gattung, dessen [sic] Erfüllung eine aufrichtige Bilanz mit sich selbst erfordert, bevor man mit dem Schreiben beginnt. Versteht man Finale als ähnlich schaurig-schöne, übersinnlich musikalische Vibration, dann braucht man gewiss einen festen Beschluss, um die beabsichtigte Komposition gerade mit Leben zu erfüllen.) Bereits vor Beginn der Arbeit habe ich häufig an jene extremen Situationen gedacht, die einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben: Der Dirigent bricht während der Leitung des Konzertes oder der Vorstellung, vielleicht nur für eine gewisse Zeit oder auch für immer, zusammen. Und bestimmt habe ich mich ebenfalls an Erich Kleiber erinnert, der sich jahrelang innig wünschte, im Moment des Sterbens Sommernachtstraum von Mendelssohn zu dirigieren. Er war lediglich unschlüssig, an welchem Punkt der Partitur ihn das Schicksal ereilen sollte.» Diese Theatralik bestimmt Kagels Finale von Beginn an, obwohl uns das Werk zunächst wie ein Schlusssatz eines Kammerkonzertes begegnet, in das in barocker Concerto-grosso-Manier immer wieder einzelne Soli oder auch Solistengruppen (quasi als «ripieno») dem «Tutti» gegenübertreten. Das Erfordernis, »von Anbeginn eine Atmosphäre des musikalischen Unwohlseins zu schaffen» (Kagel), wird durch scharfe und extrem chromatische Klangballungen erfüllt, und die immer wieder eingebauten, «dolce» aussingenden Kantilenen sind meist von außerordentlich elegischem Charakter. «Hämmernde» Pulsationen erhalten Ritornell-Charakter, dazwischen sorgen zarte, oft bordunartig unterlegte Melodien für einen fast choralartigen Charakter, bis ein Furioso zum «Erstarren» des Dirigenten führt, der nur mehr ungeordnet taktiert, bis er rückwärts zu Boden fällt. Nach dem Verebben des Konzertgeschehens stimmt das Klavier das Dies irae an, in das bald auch die anderen Instrumente einfallen und sich schließlich in dem breiten Gesang des Cum mortuis lingua morta vereinigen. Diesem ersten Hinweis auf Modest Mussorgskijs Bilder einer Ausstellung folgt im abschließenden Abschnitt Schmuyle das mehrfach eingebrachte Zitat des armen Juden aus dem dortigen Bild Goldenberg und Schmuyle. Es führt über etwas humoristische Klänge in einen dramatisch gesteigerten Höhepunkt. Die laut Kagel «denkbar extremste Fortsetzung», dass die Dirigentin bzw. der Dirigent «tatsächlich verschieden ist», wird heute wohl vermieden. (Hartmut Krones)

Produktionen

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