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Fragmente – Stille. An Diotima

Luigi Nono (1979–1980)

für Streichquartett (1979–1980) – 35´ (Arditti 50.4)

Fragmente – Stille
Nonos Hinwendung zu zutiefst «bürgerlichen» Gattung des Streichquartetts erregte sofort enormes Aufsehen. Vielen Kritikern galt es als Wendepunkt in Nonos Schaffen – weg von der dezidiert politisch engagierten Musik, hin zu neuer Innerlichkeit. Aber wie berechtigt war diese Einschätzung?
Man geht sicher nicht ganz fehl in der Annahme, dass Nono erkannt hatte, wie schwer es ist, Musik zu einem Mittel des Klassenkampfes zu machen. Es muss Momente der Desillusionierung gegeben haben, beispielsweise in der Begegnung des introvertierten Intellektuellen Nono mit den Arbeitern des Italsider-Stahlwerks in Genua, denen er La fabbrica illuminata (1964) gewidmet hatte. Aber wenn auch die Ausdrucksform neu sein mochte, bestritt Nono doch vehement, dass sich an seiner ästhetischen Einstellung oder gar an seinem politischen Einsatz etwas geändert habe: «Auch das Zarte, Private hat seine kollektive, politische Seite. Deshalb ist mein Streichquartett nicht Ausdruck einer neuen retrospektiven Linie bei mir, sondern meines gegenwärtigen Experimentierstandes: Ich will die große, aufrührerische Aussage mit kleinsten Mitteln.» Der Werktitel Fragmente – Stille weist bereits auf Wesentliches hin: Diese Musik ist keinem übergeordneten Prinzip unterworfen, sie bildet keinen Zusammenhang aus, sie kennt keine großen Bögen. Walter Levin hat beschrieben, dass gerade darin die große mentale Herausforderung für die Ausführenden liege: Man müsse die Fragmente «im Raum stehen lassen», sagte er in einem Workshop, der anlässlich der Uraufführung stattfand. Der Musiktheoretiker Heinz-Klaus Metzger schrieb wenig später einen vielbeachteten Essay mit dem Titel Wendepunkt Quartett?*, der Nonos Ästhetik verdeutlicht. Die Bruchstücke des Quartetts seien als völlig autonom zu verstehen; es gelte, so Metzger, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass die Teile durch das Ganze definiert würden. Die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, vom Ganzen und seinen Teilen, repräsentiere den Mechanismus von Herrschaft. In der Autonomie des Fragments und der Verweigerung von Totalität liege der «individual-anarchistische Gehalt» von Nonos Streichquartett.
Die Aufführungsdauer des Werks liegt bei etwa 35 Minuten. Diese Zeit ist von vielen, teils sehr ausgedehnten Pausen dominiert, deren Dauern durch eine abgestufte Skala von Fermaten beziehungsweise Angaben in Sekunden notiert sind. Nono schreibt im Vorwort, sie seien «immer verschiedenartig zu empfinden mit offener Fantasie». Diese Inseln der Stille erfüllen einerseits eine offensichtlich dramaturgische Funktion, indem sie äußerste Spannung und Aufmerksamkeit für den Eintritt auch der kleinsten Klangereignisse erzeugen. Andererseits empfangen sie ihre je eigene Qualität und Farbe durch die vorhergehenden und nachfolgenden Klänge. In dem geradezu haptischen Erleben von Stille liegt wohl ein Teil der atemberaubenden Faszination, die von Nonos Quartett ausgeht.
Alles, was wir an Musik vernehmen, ist äußerst introvertiert, fragil und intim, schon durch die meist sehr verhaltene Dynamik, die sich größtenteils zwischen Piano und fünffachem Piano bewegt. Nono treibt die Instrumente in höchste Lagen und verwendet Spieltechniken wie Flageoletts, flautato, sul tasto, sul ponticello oder col legno, die in früheren Werken bei ihm kaum vorkommen. Diese ätherischen Klangwelten, die Nono später mithilfe der Live-Elektronik weiter erforschen wird, sind in seinem Œuvre neu und leiten das Spätwerk seines letzten Lebensjahrzehnts ein. Ein paar Jahre nach der Komposition schreibt Nono, was auch als Motto über dem Streichquartett stehen könnte: «Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken, die Intelligenz, das Maximum an nach außen gerichteter Verinnerlichung. Das ist heute das Entscheidende.»

An Diotima
Diotima: Diese Figur aus Platons Symposion wird in der Spätrenaissance zum Symbol der eigenständigen, philosophisch gebildeten Frau und dann auch im 18. Jahrhundert literarisch mehrfach wieder aufgegriffen. Friedrich Hölderlin hat Diotima in seinem Briefroman Hyperion (1797–1799) ebenso aufleben lassen wie in der Elegie Menons Klagen um Diotima (1802–1803). Und natürlich stellt Diotima bei Hölderlin die Verkörperung seiner großen Liebe, Susette Gontard, dar, in deren Familie er von 1796 bis 1798 als Hauslehrer tätig war. In der Bedeutung des verborgenen Textes liegt das große Rätsel von Nonos Streichquartett. An insgesamt 53 Stellen sind (48 verschiedene) kurze Zitate aus Gedichten von Hölderlin in der Partitur notiert. Zwölf davon stammen aus dem Gedicht Diotima, von dem verschiedene Fassungen aus Hölderlins Frankfurter Zeit im Hause Gontard existieren. Im Vorwort der Partitur schreibt Nono über die Hölderlin-Fragmente, sie «sollen in keinem Falle während der Aufführung vorgetragen werden […], die Ausführenden mögen sie ‹singen›, ganz nach ihrem Selbstverständnis, nach dem Selbstverständnis von Klängen, die auf die ‹zarten Töne des innersten Lebens› [Hölderlin in einem Brief an Susette Gontard] hinstreben».
Dieses «innerliche Singen» entspricht einer jüdischen Tradition im Umgang mit heiligen Texten, und da Nono sich in dieser Zeit stark mit dem Judentum beschäftigte, darf man einen entsprechenden Einfluss wohl vermuten. Jedenfalls dienen die Texte der Inspiration während der Proben und im Moment der Interpretation. In der Frage, ob es sinnvoll sei, sie im Programmheft abzudrucken, scheint Nono keine eindeutige Haltung vertreten zu haben, aber er hat mehrfach betont, dass der Text nicht als naturalistischer Hinweis, gar als Programm zu verstehen sei. Metzger – der einst am Canto sospeso noch kritisiert hatte, dass die Texte durch die Vertonung Nonos ihrer Intimität beraubt worden seien – hebt in seinem Aufsatz hervor, dass im Verbergen der Worte nun gerade eine Pointe des Streichquartetts liege: Verschweigen als Gegenteil von Demagogie. Dass die Worte nur den Interpret:innen gelten, dem Publikum hingegen verborgen bleiben, entspreche dem spezifischen «Wesen authentischer Kammermusik», das darin liege, «dass sie, ihrer immanenten Konzeption nach, mindestens ebenso sehr den Spielern wie den – eventuell anwesenden – Zuhörern zugedacht ist». Tatsächlich kann sich beim aufmerksamen Hören die Empfindung einstellen, man belausche gleichsam unerlaubt Kunst im intimsten Moment ihrer Geburt und die Mitglieder des Streichquartetts bei einem privaten Exerzitium.
Übrigens: Wenn man die frühen Werke Nonos mit der Erfahrung des Streichquartetts aufs Neue hört, wird man besser verstehen, wie sorgsam und zurückhaltend er auch mit den plakativsten Texten umgegangen ist und dass das Verbergen des Textes im Streichquartett letzten Endes in der Entwicklung von Nonos Schaffen nur konsequent ist.

Die musikalischen Verweise
Neben der verborgenen Schicht der Hölderlin-Fragmente gibt es in Nonos Streichquartett auch Bezugnahmen auf drei Werke der Musikgeschichte, die auf unterschiedliche Art und auf unterschiedlichen kompositorischen Ebenen im Streichquartett präsent sind.
Nono widmete sein Werk dem LaSalle Quartet «mit innigster Empfindung». Dies ist eine Vortragsbezeichnung aus dem dritten Satz von Beethovens Streichquartett op. 132. Sie kommt in Nonos Notentext insgesamt sechsmal vor, immer gekoppelt mit einer weiteren Spielanweisung, nämlich «sotto voce», die ebenfalls aus dem Beethoven-Quartett zitiert wird. Wiewohl es problematisch ist, in Fragmente –Stille. An Diotima nach formalen Zusammenhängen zwischen den Hölderlin-Fragmenten und der Musik zu suchen, ist doch auffällig, dass «mit innigster Empfindung» in fünf von sechs Fällen mit derselben Textzeile zusammentrifft: «das weißt aber du nicht» aus dem Gedicht Wenn aus der Ferne. Wenn Nono hier auf Beethoven rekurriert, hat das zum einen mit dem Kompositionsauftrag und dem Anlass der Uraufführung zu tun, dem Beethoven-Fest 1980, zum anderen kann man es als Verneigung vor einem Schlüsselwerk der Gattung verstehen. Darüber hinaus bildet diese sehr eigentümliche Art des Zitierens eine Brücke zwischen dem verborgenen Hölderlin-Text und der klingenden Musik. Hörbar wird eine Spielanweisung ja nur mittelbar, die ungewöhnliche Verknüpfung mit einem Textfragment bildet aber immerhin so etwas wie formale Schlüsselmomente des Werks.
Dieser dritte Satz aus Beethovens Opus 132 ist überschrieben mit: «Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit in der lydischen Tonart», womit der Komponist seine Dankbarkeit ausdrückt, nachdem er von heftigen Leberkoliken kuriert worden ist. Dass Beethoven dafür eine ungewöhnliche Tonart, nämlich das Lydische, verwendet, hat Nono wiederum dazu veranlasst, seinem Streichquartett ebenfalls eine ungewöhnliche Tonskala zugrunde zu legen. Er griff auf die sogenannte «Scala enigmatica» zurück, die 1888 von Adolfo Crescentini konstruiert und in der Gazetta Musicale di Milano mit der Aufforderung veröffentlicht worden war, sie zu harmonisieren. Kein Geringerer als Giuseppe Verdi nahm die Herausforderung an und verwendete die Skala (sie lautet: c–des–e–fis–gis–ais–h–c, abwärts wird fis durch f ersetzt) 1889 in einem Ave Maria, das 1897 revidiert und zum ersten seiner Quattro pezzi sacri wurde. Wohl durch Hermann Scherchen, der 1951 einen Aufsatz über die Quattro pezzi sacri geschrieben hatte, ist Nono auf die Skala gestoßen. Er schreibt später, ihm sei die Idee wichtig gewesen, so wie Beethoven ein besonderes Material für die Danksagung zu verwenden: «[I]ch habe […] die ‹Scala enigmatica› von Verdi, benützt, um den verschiedensten Dank an die verschiedensten Leute auszusprechen; verschiedene Erinnerungen […] oder aber das prinzipielle Danke als Wort Hölderlins.» Bei Verdi wandert die Scala enigmatica gut hörbar als Cantus firmus durch die Stimmen, bei Nono findet sie sich an verschiedenen Stellen, etwa in zahlreichen Akkordkonstellationen. Freilich ist schon durch Nonos Einsatz von Vierteltönen ein großes Maß an Abweichung und Verfremdung gegeben, so dass es schwierig ist, die Systematik in der Verwendung der Skala analytisch zu bestimmen. Nono selber hätte einen analytischen Zugang wohl auch nicht gutgeheißen, nicht umsonst zog er sich auf die etwas kryptische Aussage zurück, er habe die Scala enigmatica nicht bloß als Material, sondern «als Denken» genommen. Neben den beim Hören schwer auffindbaren Bezugnahmen auf Beethoven und Verdi gibt es aber auch ein echtes musikalisches Zitat: Kurz vor dem Ende des Streichquartetts klingt in der Bratsche die Chanson Malheur me bat an, die zu Nonos Zeit Johannes Ockeghem zugeschrieben wurde (heute gilt es als wahrscheinlich, dass sie von seinem Zeitgenossen Abertijne Malcourt stammt). Metzger vermutet in der Wahl dieser Chanson, die das «me» im Titel trägt, ein Bekenntnis Nonos zum Individualismus, zur Einsamkeit des Kammermusik schreibenden Künstlers. Es gibt aber auch eine viel naheliegendere Erklärung: Nono hat Malheur me bat während seiner Studienzeit bei Gian Francesco Malipiero und Bruno Maderna analysiert. Maderna hat die Chanson später mehrfach instrumentiert. Das Zitat ist also sicher auch eine Hommage an den 1973 verstorbenen Freund und Lehrer – und mithin ein Zeichen dafür, dass Fragmente – Stille. An Diotima gerade keinen Rückzug ins Private darstellt, sondern Teil der Geschichte ist und diese gestaltet.
(Stefan Jena im Programmheft zum Konzert des Minguet Quartetts am 29. Jänner 2024 im Wiener Konzerthaus anlässlich des 100. Geburtstages von Luigi Nono, © Stefan Jena/Wiener Konzerthaus)

* In: Musik-Konzepte 20 (1981).

Produktionen

2024
2013
  • Arditti Quartet I

    Fragmente – Stille. An Diotima(1979–1980)- 35'
    27.10.2013 19:30, Wiener Konzerthaus, Mozart-Saal

2012
  • Arditti Quartet

    Fragmente – Stille. An Diotima(1979–1980)- 35'
    02.11.2012 19:00, Wiener Konzerthaus, Mozart-Saal

1997
  • Arditti Quartett / Kammer

    Fragmente – Stille. An Diotima(1979–1980)- 40'
    17.11.1997 19:30, Wiener Konzerthaus, Mozart-Saal

1988
  • Arditti-Quartett

    Fragmente – Stille. An Diotima(1979–1980)- 40'
    08.11.1988 19:30, Wiener Konzerthaus, Schubert-Saal