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Jesus' Blood never failed me yet

Gavin Bryars (1971)

für Ensemble und Zuspielung (1971) – 25' (50 Jahre Kontrapunkte im Wiener Musikverein)

Jesus’ blood never failed me yet
Never failed me yet
Jesus’ blood never failed me yet
This one thing I know
For He loves me so.

1971 lebte ich in London, wo ich mit einem Freund, Alan Power, an einem Film über Menschen arbeitete, die […] auf der Straße lebten. Während der Dreharbeiten begannen immer wieder betrunkene Menschen zu singen, manchmal ein wenig Oper, dann wieder sentimentale Balladen – und ein Mann, der nicht betrunken war, sang Jesus’ blood never failed me yet. Diese Aufnahme wurde in den finalen Film nicht aufgenommen. Das nicht verwendete Tonmaterial durfte ich am Ende unseres Projektes behalten, so auch die Aufnahme dieses Lieds. Als ich mir dann zu Hause die Aufnahme noch einmal anhörte, bemerkte ich, dass der Gesang des Mannes mit meinem Klavier harmonierte, und so begann ich, dazu zu improvisieren. Darüber hinaus bemerkte ist, dass ein Teil des Lieds, und zwar 13 Takte, einen spannenden Loop darstellte, der sich auf eine nicht vorhersehbare Weise sanft wiederholte. Und so brachte ich die Aufnahme nach Leicester, wo ich am dortigen Kunstcollege arbeitete, und kopierte den Loop auf eine eigene Tonspur mit dem Hintergedanken, ihn durch eine Orchesterbegleitung zu ergänzen. Während des Kopiervorgangs ließ ich die Türe zum daneben liegenden Malstudio offen und ging auf einen Kaffee. Als ich zurückkam, realisierte ich, dass der sonst so lebendige Raum auf fast unnatürliche Weise gedämpft wirkte. Die Menschen darin bewegten sich viel langsamer als sonst, ein paar unter ihnen saßen allein und weinten leise. Ich war überrascht, bis ich endlich verstand, dass es dieses Tonband war, das immer noch spielte, das diese Situation ausgelöst hatte, und dass die Personen im Raum von der Stimme des singenden alten Mannes überwältigt waren. Diese Erkenntnis überzeugte mich von der emotionalen Kraft der Musik und von den Möglichkeiten, die die Begleitung dieser Liedaufnahme durch ein Orchester eröffnen würde, indem sie die Nobilität und den einfachen Glauben dieses Obdachlosen noch verstärken würde. Obwohl der Mann starb, bevor er die Uraufführung meiner Komposition hören konnte, bleibt dieses Stück ein vielsagendes und doch unaufdringliches Zeugnis seines Geistes und Optimismus. Das Stück erschien zuerst 1975 auf Brian Enos Obscure-Label, ehe es noch einmal 1993 in einer neuen Version mit Tom Waits aufgenommen wurde. Seither sind noch viele andere Versionen erschienen, darunter eine 12-minütige Fassung für vier Solist:innen und eine Bearbeitung für großes Orchester. 2018 entstand eine Chor-Fassung für die Song Company; 2019 wurde eine 12-stündige Nachtversion für Orchester, mein Ensemble und einen Obdachlosen-Chor in der Tate Modern uraufgeführt. Und im selben Jahr nahm Cafe Oto eine 25-minütige Version mit meinem Ensemble und meinen vier Kindern auf.* (Richard Gavin Bryars; Übersetzung: Angela Heide)

Das 1971 geschaffene Frühwerk Jesus’ blood never failed me yet stellt eine persönliche Sicht bzw. eine kommentierte Adaption eines Refrains einer 1911 erschienenen Gospelhymne von James M. Black dar, den der Komponist durch einen Obdachlosen kennengelernt hatte: «Jesus’ blood never failed me yet/Never failed me yet/This one thing I know/For He loves me so.» Die Melodie wird in einer «Endlosschleife» wiederholt, das Ensemble begleitet mit gleichsam traditioneller Kadenz-Harmonik. Der vielfach wiederholte Gesang ertönt als vorgefertigte Aufnahme, um exakt die vom Komponisten gewünschte religiöse Sphäre einzubringen, die nach einiger Zeit erfolgenden Beleuchtungen durch das Orchester tragen eine nahezu choralartig-meditative Klanglichkeit in das Geschehen. Dabei wird das (wie der Gesang) zwölftaktige harmonische Grundmuster nur durch einen sukzessiven Wechsel der Instrumentation variiert, was dann auch nach dessen Ablösung durch eine zweite Akkordfolge in der Mitte des Werks der Fall ist. Sie spart zudem die wenigen figurativen Bewegungen des ersten Modells aus und verklingt mit dem ihr eigenen kadenzartigen Gestus. Einer ersten, für eine Schallplatte ausgearbeiteten Version folgten 1993 eine erweiterte CD-Fassung sowie später weitere Bearbeitungen. Beim Konzert im Rahmen von Wien Modern 2024 erklingt die Erstfassung von 1971. (Hartmut Krones)

gavinbryars.com/work_composition/jesus-blood-never-failed-me-yet 

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2024