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Or Bahir

Sarah Nemtsov (2024)

für Streichquartett (2023 ÖEA) – 20' (Arditti 50.2)

Seit ich als Jugendliche das erste Mal Aufnahmen vom Arditti Quartet gehört habe, war ich Fan und habe dem Quartett zahlreiche wundersame, beeindruckende musikalische Erlebnisse, Impulse und Horizonterweiterung zu verdanken. Später hatte ich das Glück, das Arditti Quartet in Konzerten live erleben zu können. Ich wurde – wie viele andere Komponist:innen – durch die Tätigkeit des Quartetts, durch dessen Aufnahmen und Konzerte stark geprägt. Das Arditti Quartet hat die Neue-Musik-Landschaft über 50 Jahre entscheidend mitgestaltet! Als Studentin hätte ich mir kaum träumen lassen, einmal für das Quartett schreiben zu dürfen. Das erste Mal Kontakt hatten wir tatsächlich erst im November 2022, als das Arditti Quartet im Rahmen des weit-Festivals in Weingarten, das in dem Jahr einen Schwerpunkt auf meine Musik legte, ein Konzert mit mehreren Werken von mir spielte: zwei Streichquartette (Im Andenken von 2007, weggeschliffen von 2018) sowie mein Violin-Solo Kadosh und die Wolfsgesänge für Violoncello solo – es war eine überaus glückliche Zusammenarbeit, und im Anschluss fragte mich Irvine Arditti, ob ich mir vorstellen könne, ein Werk anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Quartetts zu schreiben. Ich war natürlich sehr bewegt und geehrt. Or bahir ist für das Arditti Quartet in Bewunderung und Dankbarkeit geschrieben. Beim Schreiben hatte ich das Gefühl, ich muss allerdings erstmal vergessen, was ein Streichquartett ist, es lag quasi eine doppelte Last auf der Besetzung: die Schwere des Streichquartetts selbst als Gattung und dann auch noch die ganze 50-jährige Geschichte und das Repertoire des Arditti Quartets. Was für eine Aufgabe! Der Titel – Or bahir (helles oder strahlendes Licht) – bezieht sich auf ein 100 Jahre altes Buch von Gershom Scholem – Das Buch Bahir: Ein Schriftdenkmal aus der Frühzeit der Kabbala. Das helle Licht hat darin viele Bedeutungen und einige widersprüchliche (wie das Leben widersprüchlich ist) und faszinierende Paradoxien – vier Zitate waren wichtig und sind Titel für die vier Abschnitte des Werks:

«Nun aber sieht man nicht das Licht, leuchtet es in den Himmeln.»
«Er macht Finsternis zu seiner Hülle.»
«Gewölk und Nebel sind um ihn.»
«Auch Finsternis ist vor dir nicht finster, und Nacht strahlt wie der Tag, Finsternis wie Licht.»

Ich versuchte, Klänge zu finden, die zugleich dunkel und licht sind, im Nebel Licht verhüllen, im Dunkel ein Glühen beherbergen. Einige Saiten der Instrumente sind verstimmt, um andere harmonische Felder und Sphären zu erzeugen (auch im Obertonbereich und in den Flageolets, aber es hat auch klangfarbliche Aspekte). Kompositorisch begab ich mich auf die Suche nach dunkel-glimmenden Akkorden, nebligen Texturen, seltsamen Pfaden und musikalischen Widersprüchen, Kontrasten. Dabei wollte ich das Quartett quasi die ganze Zeit als ein Wesen (mit reichem Innenleben) behandeln, es spielen fast immer alle und gewissermaßen hierarchielos, in komplementären Strukturen ergibt sich ein anderes. Das war eine Herausforderung, und ich glaube, dass dadurch eines meiner konzentriertesten, aber auch abstraktesten Werke entstanden ist. Das Streichquartett ist verstärkt, um nah an all den Nebenklängen zu sein, den Geräuschen, dem Nebel und Staub. Es gibt vier Zuspielungen, die meist subtil Harmonien übernehmen, erweitern und in den Raum tragen. Die letzten Seiten der Partitur schrieb ich im Oktober 2023, während die Welt – wieder – zerbrach. (Die Worte versagen, Trauer um all das unschuldige Leben. Ich sehe die Augen meines Kindes, das hellste Licht, das ich kenne. Unsere Kinder verdienen eine bessere Welt.) (Sarah Nemtsov)

Produktionen

2024